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Hintergrund: Sitzblockaden


Im Frühsommer 2010 wurden zwei Aufmärsche der Kameradschaft Märkisch-Oder-Barnim (KMOB) durch Sitzblockaden gestoppt. Zu den Protesten aufgerufen hatte das regionale Bündnis Brandenburg nazifrei. Am 9. Juli 2011 wurde eine rechte Demonstration in Neuruppin durch Bürgerinnen und Bürger blockiert. Ein ähnlicher Versuch am 24. September 2011 wurde von der Polizei aber unterbunden. Mehrere hundert Bürgerinnen und Bürger wurden in der Folge wegen des Verdachts der Nötigung durch die Polizei angezeigt.

Brandenburgs Innenminister Dietmar Woidke (SPD) sagte dazu in einer Rede vor dem Innenausschuss des Landtages, die Veranstalter sollten darüber nachdenken, „ob der vermeintliche Königsweg der Verhinderungsblockade nicht in Wahrheit ein Irrweg ist“ und riet zu „mehr Fantasie und Vielfalt bei den legitimen und legalen Aktionsformen“.
 

Die Rechtsprechung

Ein Erlass des Brandenburger Innenministeriums aus dem Jahr 2010, der das Verhalten der Polizei gegenüber Sitzblockaden bei rechten Aufmärschen regeln soll, unterscheidet zwischen zulässigen, „als optisches Haltesignal, aber nicht als tatsächliches Hindernis wirkenden, gewaltfreien demonstrativen Sitzblockaden“ und so genannten „Verhinderungsblockaden“. Letztere können, auch wenn sie friedlich sind, nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1995 dann rechtlich als Nötigung (§ 240 StGB) gewertet werden, wenn dadurch andere Personen tatsächlich körperlich daran gehindert werden, ihr Recht auf Meinungsäußerung in der von ihnen gewünschten Form wahrzunehmen.

Bei der strafrechtlichen Beurteilung einer Sitzblockade muss außerdem berücksichtigt werden, ob die eingesetzten Mittel im Verhältnis zum Ziel als verwerflich anzusehen sind, so eine weitere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2011. Das Gericht stellte gleichzeitig fest, dass die Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit eine gemeinsame Sitzblockade erst zu einer Versammlung im Sinne des Grundgesetzes mache.

Im Streit um Sitzblockaden geht es, über die Rechtsprechung hinaus, auch um rechtsphilosophische und moralische Fragen.
 

Ziviler Ungehorsam

Schon vor 30 Jahren wurde in der alten Bundesrepublik heftig über Sitzblockaden debattiert. Bürgerinnen und Bürger blockierten Anfang der 1980er Jahre mehrfach Zufahrten zu Militärgelände, um gegen die Stationierung von Atomraketen zu protestieren. Es kam zu etwa 3.000 Strafverfahren, knapp 200 Bürgerinnen und Bürger wurden wegen Nötigung zu Haftstrafen verurteilt. Die Urteile wurden durch später durch das Bundesverfassungsgericht aufgehoben.

Der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler warf den Demonstranten vor, den Rechtsfrieden zu gefährden und damit „die Axt an die Demokratie“ zu legen. Der Philosoph Jürgen Habermas dagegen sah im Zivilen Ungehorsam unter bestimmten Voraussetzungen ein Instrument zur Korrektur und Erneuerung der Demokratie. Wenn der Staat etwas Legales, aber moralisch Verwerfliches und die Gesellschaft Gefährdendes tue, und Bürgerinnen und Bürger keine legale Möglichkeit mehr haben, darauf wirksamen Einfluss zu nehmen, dann könne Ziviler Ungehorsam ein letztes Mittel sein, um auf Fehlentwicklungen hinzuweisen.

Vor diesem gedanklichen Hintergrund erklärte im November 2011 die Synode der Evangelischen Kirche, mit Blick auf die Blockaden von Neonazi-Aufmärschen, Sitzblockaden hätten „in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland schon viel Positives bewirkt.“
 

Versammlungsfreiheit gilt für alle

Der Artikel 8 des Grundgesetzes garantiert allen Bürgerinnen und Bürgern die Versammlungsfreiheit. Es ist eines der unaufhebbaren Grundrechte. Daher meint der brandenburgische Generalstaatsanwalt Erardo C. Rautenberg: „Da die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit Grundpfeiler des demokratischen Rechtsstaates sind, haben nicht verbotene Demonstrationen auch stattzufinden.“ Diejenigen, die sich Neonazis in den Weg setzen, halten es dagegen nicht für hinnehmbar, dass Neonazis unter dem Schutz des Grundgesetzes ihre demokratie- und menschenfeindlichen Ansichten ungehindert verbreiten können, und nehmen eine mögliche Rechtsverletzung deshalb in Kauf.


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